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Oberstdorf Berggipfel

Leseprobe

An jenem Tag, als ich die tanzenden Schneeflocken betrachtete, ahnte ich nicht, wie nah der Moment rückte, in dem ich meiner Heimat den Rücken kehren und den blutigen Pfad meines Bruders betreten würde.

Der Schnee knisterte unter meinen Füßen und die Gräser, die ich mir gegen die Kälte in meine Schuhe gestopft hatte, raschelten. Ein scharfer Wind, vom Meer aufgestiegen, presste salzige Nässe über die Berghänge. Die Gipfel hielten graue Wolken wie gefangene Geister auf ihrem Weg nach Hiraizumi zurück, und der Wind zerschnitt wie eine Klinge das Heulen der Wölfe in der Dämmerung. Es war Mitte Mai, und doch fraß sich der Frost durch meine Kleidung bis in die Haut, als wolle er mich an die Kraft des Winters erinnern.

Ich harrte aus, bis ein klagender Ton die Stille durchschnitt. Ein trüber Laut, der an den Felsen zerschellte. Der Klang des Muschelhorns meines Bruders war unverkennbar. Ein Lebenszeichen, aber das Signal kam von weit oben, irgendwo aus den schneebedeckten Gipfeln. Ich schluckte meine Enttäuschung hinunter, ballte die Fäuste. Beim Gedanken an Fleisch lief mir das Wasser im Mund zusammen, aber Tadashi war zu weit entfernt, als dass er den Weg zu uns heute noch auf sich nehmen würde.

Kaum hatte ich das Haus betreten, ertönte Tadashis Muschelhorn erneut: drei kurze Stöße, gefolgt von einem langen, anschwellenden Ton. Unmissverständlich, trotz des Windes, der den Klang leicht verzerrte. Mein Herz klopfte. Eine Warnung! Etwas näherte sich. Tadashi musste es vom Bergrücken aus gesehen haben. 

Ein ausgehungerter Bär? Oder das Wolfsrudel, das sich seit Tagen herumtrieb? Am Ende des Winters wagten sich die scheuesten und gefährlichsten Wildtiere in die Nähe der Menschen. Der Hunger trieb sie bis zu den Häusern und Speichern. Erneut beugte ich mich durch die niedrige Eingangstür, schlüpfte nach draußen.

Eine kleine Ewigkeit konnte ich nicht erkennen, was mein Bruder gesehen hatte. Dann hörte ich ein Schnauben, es klang wie ein Pferd. Mein Herz stockte. Asketische Yamabushi, Anhänger des Shugendō, nutzten unser Haus gelegentlich als Pilgerherberge und Lager, hauptsächlich nach strapaziösen Ritualen. Reittiere besaßen sie allerdings nicht.

In einem Schleier aus Tropfen und Flocken tauchten talabwärts Umrisse auf. Reiter zwischen den Bäumen. Mindestens sieben Pferde. Plünderer? Desertierte Bushi, Angehörige des Kriegerstandes, die sich von ihrem Lehnsherren losgesagt hatten? Nur Verlorene, Gesetzlose  oder Gehetzte trieben sich an einem solchen Tag in den Bergen umher. Buddha möge verhüten, dass es Taira waren.

Zwischen den stämmigen Pferden trotteten zwei große Hunde. Bärenhunde, ausgerechnet. Trotz der Kälte brach mir fast Schweiß aus. Einen Bekannten Tadashis hatten solche Bestien fast in Stücke gerissen. Ein Hirte aus dem Nachbartal war im letzten Jahr durch einen dieser Hunde getötet worden – vor den Augen seiner Kinder. Solche Ungeheuer waren ein Privileg der Mächtigen. Allein Adelige durften sie führen, gewöhnlich als Paar: Hündin und Rüde. Gleichgeschlechtliche Hunde neigten dazu, sich gegenseitig zu zerfleischen.

„Bushi, kaum noch einen Ri von hier entfernt“, rief ich nach innen. „Sie kommen hierher, mit Bärenhunden.“

Schnaufend ließ sich meine Ziehmutter in die Hocke nieder. Der alte Holzboden knarrte. Ihre schneeweißen Haarspitzen schwangen im Zwielicht wie die Fühler eines aufgeschreckten Insekts.

„Hoffentlich wenigstens Fujiwara-Kämpfer.“ Sie tastete nach einem Zunderschwamm, der in einer Glutschale schwelte. Gewandt schichtete sie feines Holz über den Baumpilz, blies Funken an. Bald glomm das offene Herdfeuer, welches in der Mitte des Raums in den Boden eingelassen war und der Geruch von Rauch erfüllte die Luft. 

Wie konnte sie nur so pragmatisch bleiben? Ich versuchte, mir ein Beispiel an ihrer Ruhe zu nehmen und mein Herz zu bändigen, welches vor Nervosität schneller schlug. Bald knackten erste Flammen und vertrieben die Kälte.

Ich lief barfuß durch den Raum, prüfte die Sauberkeit und füllte die Waschschüsseln auf. Der Boden bestand im Eingangsbereich aus Lehm, weiter innen aus grob behauenen Holzbrettern, stellenweise mit Strohmatten belegt. Unsere Gäste sollten nichts zum Klagen haben, denn unser Überleben hing davon ab. Die Matten waren klamm vom Winter. Würden sie das als Beleidigung ansehen?

„Mach, dass du rausgehst, Yuki!“

Ihre blinden Augen richteten sich auf mich. „Die Geister sind unruhig. Es ist Schicksal. Stimm diese Fremden milde.“

Der Hufschlag wurde lauter. Die Reiter hatten das Haus fast erreicht. Eilig trat ich ins Freie. Fujiwara, vermutlich. Männer in Sold, immerhin. Die Reiterei des Fürsten besaß das Recht, ohne Gegenleistung verköstigt zu werden. Wenn sie nahmen, dann zahlten sie jedoch in der Regel. Meistens. Aber jeder falsche Ton, jede fehlende Höflichkeit konnte tödlich sein. Sie hatten das Recht, Personen niederen Standes zu töten, wann immer sie sich beleidigt fühlten.

Mit pochendem Herzen kniete ich mich in den Schnee und senkte den Kopf. Ein warmer Atem traf mein Genick. Einer der Hunde, der laut hechelte, beschnupperte mich. Ich hielt die Luft an, wagte keine Bewegung und hoffte, dass er nicht zubeißen würde.

Hufe stampften, Steine knirschten. Die Reiter zügelten ihre Pferde neben mir.

„Steh auf!“

Würden die Hunde angreifen, wenn ich mich zu rasch bewegte? Zögernd erhob ich mich. Ein flüchtiger Blick auf die Reiter: Schwerter, Bögen, volle Rüstung, die Gesichter stoppelbärtig, die Augen wachsam.

Ein Kampf wäre kurz und tödlich für uns. Waren muffige, schäbige Reisstrohmatten oder eine zu zögerliche Reaktion auf eine Aufforderung Grund genug, um meinen Kopf von den Schultern zu trennen?

Der vordere Reiter hob die Hand. Wasser tropfte von der Krempe seines Helms auf die schwarze Mähne des Pferdes. Auf seinen Schulterplatten war in schmalen Goldlinien der Blauregen der Ōshū-Fujiwara angebracht – ein Zeichen seiner engen Zugehörigkeit zum Hof in Hiraizumi. Die getrocknete und lackierte Rohhaut seines Brustpanzers raschelte unter der bedruckten Lederverkleidung wie das gereizte Züngeln einer Schlange, als er den Helm hob.

Er war der Vorgesetzte dieser Truppe, einen halben Kopf größer als Tadashi und breit in den Schultern, aber nicht übermäßig schwer. Alles an ihm strahlte Kraft und Wachsamkeit aus. Er erinnerte mich an einen Wolf, der gelernt hatte, seine Energie gezielt einzusetzen. Mit ihm war nicht zu spaßen. An seiner Hüfte hing ein abgenutzter Köcher mit nur zwei Pfeilen. Der Kriegsbogen ragte über seine Schulter, rotbraune Flecken bedeckten das blaue Muster auf weißem Grund, das seine Rüstung schmückte: eingetrocknetes Blut. 

Ungewöhnlicherweise führte er das Pferd eines Gefährten eigenhändig am Zügel.

Der Reiter im Sattel war halb zusammengesunken, der rechte Arm bandagiert, der Verband durchnässt, der Blick leer. Meine Erleichterung kam mit der Kraft eines warmen Windes. Sie waren nicht gekommen, um zu plündern oder zu töten.

Ich wagte es nicht, dem Vorgesetzten in die Augen zu sehen. Doch ich spürte seinen Blick prüfend auf mir ruhen.

„Der Pass nach Hiraizumi, ist er passierbar?“

„Herr, es tut mir zutiefst leid, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten. Es hat geschneit, und der Wind war scharf. Der Neuschnee liegt lose auf einer harten, vereisten Schicht, das macht das Queren riskant. Im Windschatten ist der Weg kaum auszumachen vor lauter Schnee, der dorthin geweht wurde.“

Ich sprach hastig, aus Angst. Nicht nur mein leerer Magen hing von unserem Einkommen ab. Blieb Tadashi die erfolgreiche Jagd heute versagt, würden unsere Vorräte kaum noch eine Woche reichen. Würden die Bushi bei uns nächtigen, könnte ich wenigstens etwas Geld verdienen.

„Und es wird Nacht sein, ehe die verehrten Herren den Pass erreichen.“

Er runzelte die Stirn. Für einen Moment, mit seinen spitzen Eckzähnen und dem düsteren Blick, glich er Fudō Myōō – dem Dämonenbezwinger, dem die Shugenja in ihren Feuerriten huldigen. Unwillkürlich wich ich zurück und betete, dass es nicht als Unhöflichkeit gewertet wurde.

„Eine Rast ist nicht angebracht.“ Der Fremde wechselte Blicke mit seinen Kameraden. „Wir sollten wohl umkehren.“ 

Etwas an seiner Haltung fesselte mich. War es diese stoische Ruhe oder die fürsorgliche Umsicht gegenüber seinen Leuten? Ich konnte es nicht sagen. Und gleichzeitig war da eine Dunkelheit in seinem Gesicht, die mir Angst machte. Er sprach in der klaren Sprache der Städter, kein Hauch ländlichen Dialekts.

Würden sie meine kleine Ausflucht durchschauen? Der Pass war gefährlich, aber Tadashi hätte sie führen können. Er kannte die Zeichen, las die Spuren, hörte die Sprache der Berge.

Ein Kloß stieg mir in den Hals, doch ich zwang mich, weiterzusprechen.

„Verzeihen Sie, ehrenwerter Herr, dass ich Sie ungefragt anspreche. Doch der Weg um das Kurikoma-Massiv ist beschwerlich. Unser bescheidenes Haus, wenn ich es anmerken darf, bietet einen trockenen Platz zum Aufwärmen, mit einer eigenen heißen Quelle. Mein Bruder wird bald zurückkehren und wäre geehrt, Ihnen den Weg zu weisen. In der Zwischenzeit stünden Heilkräuter für Ihre Kameraden bereit, wenn Sie es wünschen. Die Herrin des Hauses – eine Ogamisama – ist geübt in der Wundversorgung. Sie ist blind, aber sie verfügt über große Erfahrung.“

Sein Stirnrunzeln ließ mich innerlich zusammenzucken. Ein Schauer lief über meinen Rücken, schnell fügte ich hinzu: „Es würde uns eine große Ehre sein, Ihnen zu Diensten zu sein.“

Er musterte mich mit einem langen, forschenden Blick, der jede Regung meiner Unsicherheit freilegte und fragte trocken: „Schamanischer Beistand?“ 

Dann aber lächelte er.

„Und hoffentlich habt ihr genügend Vorräte, um unsere Tiere und uns zu verköstigen?“

Die Yamabushi halfen uns im Winter manchmal mit Lebensmitteln aus. Wahrscheinlich tat Tadashi im Gegenzug Dinge für sie, die das Gesetz nicht duldete.

„Reis, Zwiebeln der wilden Lilie und Fleisch – Kaninchen und getrocknetes Sika, wenn Sie es wünschen.“

„Eure Schamanin scheint effizient zu sein, wenn sie gar wilde Tiere zu euch lenkt, so dass ihr mit Fleisch versorgt seid.“

„Edler Herr, mein Bruder ist ein Winterjäger.“

Sein Blick traf mich, dunkel und schimmernd wie nasser Torf. Er drang bis auf den Grund meiner Seele und rief ein vollkommen unangebrachtes Ziehen in meinem Unterbauch hervor. 

„Ein Winterjäger, eine Schamanin und ein Mädchen mit Wasseraugen. Wie lautet dein Name?“

„Yuki, Herr.“

Vermutlich amüsierte ihn die Schlichtheit meines Namens. Schnee. Doch er zeigte oder kommentierte es nicht.

„Ich hoffe, euer Mahl ist so angenehm wie deine Überzeugungskraft, Yuki. Bereitet uns bitte einen Ruheplatz für die Nacht und etwas Warmes zu essen. Und ich wünsche, dass die Fähigkeiten der Schamanin in der Wundversorgung deinen vollmundigen Ankündigungen gerecht werden.“

Ich blinzelte mehrmals, bis ich begriff, dass ich mich nicht verhört hatte. Ein Bushi, der in solcher Höflichkeit mit mir sprach, das war ungewöhnlich. Seine Worte hallten in meinem Kopf nach, süß wie der erste Reis nach langer Hungerzeit. Ein Gefühl, das ich kaum benennen konnte, durchströmte mich. Zum ersten Mal konnte ich Einfluss auf mein Schicksal nehmen. Doch zugleich war die Warnung unüberhörbar. Wenn sein Gefährte starb, fiel die Schuld auf mich. Der Tod eines Fujiwara-Bushi aus Habgier wog schwerer als jede Beleidigung.

Würde eine Klinge mir in diesem Fall gnädig den Hals durchtrennen oder doch eher die Gedärme?

第一章 –  雪に埋もれた名前
Dai isshō – Yuki ni umoreta namae
Kapitel Eins – Ein Name, begraben im Schnee

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